Mädchen*arbeit entsteht mit der Frauen*bewegung
Die Anfänge feministischer bzw. parteilich-emanzipatorischer Mädchen*arbeit reichen zurück in die 70er Jahre. Sie entstehen zusammen mit den Protesten und Forderungen der zweiten Frauen*bewegung. Es gab gute Gründe – für das Aufbegehren von Frauen* gegen patriarchale Unterdrückung – und für die Entstehung einer Mädchen*arbeit, für die Pädagogik auch immer politisch ist:
Beispielsweise war bis 1976 im Familienrecht verankert, dass eine Frau* bei ihrer Heirat ihre Rechte in Bezug auf ihre finanzielle, berufliche und körperliche Selbstbestimmung an ihren Ehemann abgab! Ihr Vermögen wurde sein Vermögen, er hatte von nun an das Recht, ihren Arbeitsvertrag zu kündigen und sie war gesetzlich zur Hausarbeit und Kindererziehung verpflichtet. Dem nicht genug: Die Ehefrau hatte dem Ehemann sexuell zur Verfügung zu stehen! Erst mehr als zwanzig Jahre später wurde 1997 Gewalt in der Ehe in Deutschland als Straftatbestand anerkannt.
Das Grundgesetz besagt zwar seit seinem Bestehen in Art. 3 Abs. 2, dass Männer* und Frauen* gleichberechtigt sind … aber die genannten Beispiele zeigen, dass wir es faktisch mit großer Ungleichheit zu tun hatten: „Gleichberechtigung bedeutete in Westdeutschland, wenn jeder und jede an seinem und ihrem Platz ist.“ [1]
[ 1 ] vgl. Wallner, Claudia (2014). Es ist noch lange nicht vorbei! Gute Gründe für Mädchenarbeit in Zeiten vermeintlicher Gleichberechtigung. In: Kauffenstein, Evelyn und Vollmer-Schubert, Birgit (2014). Mädchenarbeit im Wandel. Bleibt alles anders? Weinheim: Beltz Juventa, S. 42
Auch in der Praxis der Jugendwohlfahrt:
Rechtlose Situation von Mädchen* und jungen Frauen*
Die gesellschaftlichen Anforderungen an Rollen und Verhalten von Mädchen* und jungen Frauen* in den 70er Jahren spiegelten sich natürlich auch in der Praxis der Jugendwohlfahrt wieder.
Mädchen*, die sich nicht ausreichend angepasst verhielten – und dies wurde unter anderem daran festgemacht, wie sie sich im Kontakt mit Jungen* und Männern* zeigten – befanden sich in der Folge durchaus in der rechtlosen Situation strikter Erziehungshilfen: Die offizielle (!) Begründung „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“ (damals „HWG“ genannt) genügte, um Mädchen* und junge Frauen* jahrelang in geschlossenen Heimen wegzusperren!
Eine kritische Analyse dieser Herrschaftsverhältnisse mündete in die Überzeugung: Als Frauen* können wir Mädchen* nur dann stärken, wenn wir für sie eigene Räume und Strukturen schaffen.
So entstanden die Grundsätze einer feministischen bzw. parteilich-emanzipatorischen Mädchen*arbeit, wie wir sie auch heute noch kennen:
• Mädchen*eigene Räume, in denen nur weibliche Fachkräfte mit Mädchen* arbeiten,
• Ressourcenorientierung, die Schwierigkeiten an Strukturen und nicht an Mädchen* festmacht
• und eine parteiliche Haltung, die die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse reflektiert und die Anforderungen weiblicher Sozialisation kritisch im Blick hat.
Und heute … in Sachen Geschlechtergerechtigkeit alles erreicht?
Bei allen Erfolgen in Sachen Emanzipation, die in den letzten Jahrzehnten erkämpft werden konnte, ist die Kategorie Geschlecht auch heute noch ein zentraler Platzanweiser in unserer Gesellschaft:
Mädchen*
• bekommen im Schnitt weniger Taschengeld als Jungen*,
• leisten zu Hause einen großen Anteil an Care Arbeit
• sind häufiger von sexualisierter Gewalt, Essstörungen und psychischer Belastung in Bezug auf Schule betroffen,
• wählen ihre Ausbildungsberufe zu einem großen Teil aus eher als „klassisch weiblich“ angesehenen Berufen aus
• verdienen daher auch schon in der Ausbildung trotz guter Schulabschlüsse deutlich weniger als männliche Gleichaltrige!
Frauen
• leisten 2-5 mal soviel unbezahlte Arbeit wie Männer, im Haushalt und in beruflichen Feldern,
• verdienen in Deutschland im Schnitt 23% weniger als männliche Kollegen in den gleichen Sparten,
• sind in den Chefetagen von Wirtschaft, Medizin, Recht und in politischen Ämtern nicht annähernd in gleichem Maße vertreten wie Männer,
• und kriegen im Schnitt nur halb soviel Rente wie Männer!
Aber nicht nur die Kategorie Geschlecht, sondern vor allem die Verschränkung mit weiteren Faktoren wie Aufenthaltsrecht, soziale Herkunft, Gesundheit, Migration, Rassifizierung, sexuelle Orientierung, körperliche Verfasstheit, Aussehen, Gewicht, Religion, Befähigung/Behinderung usw. bestimmen maßgeblich sowohl über Privilegien und Möglichkeiten als auch über Einschränkungen und Diskriminierungs- und Gewaltrisiken mit denen Mädchen*, Frauen* und non-binäre Kinder und Jugendliche heute konfrontiert sind.
Eine fachlich fundierte Perspektive auf Lebenslagen von Mädchen*, jungen Frauen* und non-binären Kindern und Jugendlichen muss also immer einen intersektionalen Ansatz verfolgen, d.h. die Verschränkung verschiedener Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft berücksichtigen.
BAG Mädchen*politik: Aktuelle Handlungsempfehlungen auf dem Weg zur Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit
Anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens hat die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Mädchen*politik 2009 konkrete Handlungsempfehlungen auf dem Weg zur Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit herausgegeben. Diese nehmen ausgewählte Facetten der aktuellen Lebenslagen von Mädchen* und jungen Frauen* in den Blick und formulieren differenzierte Forderungen dazu.
Dabei werden die Erfolge der Mädchen*arbeit gewürdigt und exemplarisch weiterhin bestehende Barrieren und Benachteiligungen für Mädchen* und junge Frauen* in unserer Gesellschaft aufgezeigt.
Hier haben wir einige Beispiele zusammengefasst:
Betrifft: Gesellschaftliche und mediale Bilder von Mädchen* und jungen Frauen*
Fakten:
• Durch gesellschaftliche und mediale Extrembilder von emanzipierten und selbstbewussten Mädchen auf der einen Seite und von Jungen als Bildungsverlierer auf der anderen Seite werden Lebensrealitäten von Mädchen und Jungen verzerrt wahrgenommen. Diskriminierun- gen und Benachteiligungen, die der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern und auch dem Recht auf gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen Deutschlands entgegenstehen, bleiben dabei schnell unbeachtet.
Forderungen:
• Fachliche Fundierung der Debatte um Geschlecht und Bildung, um tatsächliche Unterstützungsbedarfe ermitteln zu können.
• Berücksichtigung der Vielfalt der Lebensrealität von Mädchen* und jungen Frauen* bei allen politischen Entscheidungen.
• Unterstützung von Forschungsvorhaben, die die Vielfalt der Lebenssituationen von Mädchen* und jungen Frauen* – insbesondere auch in strukturschwachen Gebieten und in benachteiligten Lebenssituationen – in den Blick nehmen.
Betrifft: Mädchen* und Bildung
Fakten:
• Es ist in den letzten Jahrzehnten ein Anstieg an Mädchen* mit guten und sehr guten Bildungsabschlüssen feststellbar. Davon abzuleiten, dass »alle« Mädchen* »Bildungsgewinnerinnen« sind und die, die Unterstützung benötigen, aus dem Blick zu nehmen, kann nicht im gesellschaftlichen Interesse sein! Bildung ist ein Grundrecht.
Mädchen* und junge Frauen* in marginalisierten und benachteiligten Lebenslagen bleiben in der Debatte um die Bildungsgewinne von Mädchen* verborgen und erhalten immer noch keine adäquate Unterstützung.
Forderungen:
• Durchführung von Maßnahmen, Modellprojekten und Forschungsvorhaben zur schulischen Förderung von Mädchen* insbesondere aus sogenannten bildungsfernen Milieus und prekären Lebenslagen.
• Insbesondere braucht es Maßnahmen, die die Ausgrenzung und mangelnde Förderung von Mädchen* aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse und von Mädchen*, die akut in Armut leben, beseitigen. Nachweislich werden diese Mädchen* im Schulsystem schlechter bewertet und niedriger eingeschätzt als Mädchen* aus der Mittel- oder Oberschicht, auch wenn sie die gleichen Leistungen bringen. Das verschärft die Lebenssituation dieser Mädchen* weiter.
Betrifft: Mädchen* und Gesundheit
Fakten:
• Riskantes Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen weist deutliche geschlechtsspezifische Varianten auf. […] Es fehlen entsprechend qualifizierte, geschlechter-sensible und bedarfsgerecht ausgebaute Angebotsstrukturen, die auch die Belange von Mädchen* und jungen Frauen* in prekären Lebenssituationen aufgreifen. Mädchen* und junge Frauen*, die in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen, sind in ihrer Gesundheit stark gefährdet (z.B. Mangelernährung, keine Gesundheitsvorsorge).
Migrant*innen, Flüchtlingsmädchen* und Mädchen* oder junge Frauen*, die Minderheiten angehören, haben besonders schlechte Zugänge zu Gesundheitsleistungen und Präventionsmaßnahmen.
Auch für Mädchen* und junge Frauen* mit unterschiedlichen Behinderungen gibt es kaum qualifizierte Angebote.
Forderungen:
• Umsetzung der positiven Erfahrungen aus den Präventionsmaßnahmen im Gesundheitsbereich durch Finanzierung von Angeboten, die langfristige Unterstützung von Mädchen* und jungen Frauen* ermöglichen
• Finanzierung von Maßnahmen und Angeboten zur Sexualaufklärung und zur Vermittlung von Kenntnissen über den eigenen Körper im außerschulischen Bereich und in Kooperation mit der Schule
• Ausrichtung der Angebote nach Zielgruppen, um Mädchen* und junge Frauen* in der Unterschiedlichkeit ihrer Lebensformen zu erreichen (Qualifikation von Fachkräften, Verwendung einer einfachen Sprache, mehrsprachliche Angebote usw.)
• Modifizierung und Fortführung der bereits begonnenen Kampagnen auf Bundes- und Landesebene, die präventiv Themen im Gesundheitsbereich aufgreifen, unter geschlechtsspezifisch differenzierten Gesichtspunkten
Section
Die vollständigen Handlungsempfehlungen stehen auf der Seite der BAG Mädchenpolitik als Download zur Verfügung.
Gute Gründe …
für ein mädchen*politisches Einmischen in der Kommune!
Die Ausführungen zeigen: Nach wie vor gibt es gute Gründe – für eine parteiliche Mädchen*arbeit und eine engagierte Mädchen*politik!
„Insgesamt müssen wir uns wieder als politische Akteurin ins Feld bringen, sowohl in den vorhandenen Strukturen, als auch inhaltlich: wir müssen uns klar positionieren und nach außen vermitteln, wir vertreten nicht alte Zöpfe, sondern stehen ein für eine aktuelle Auseinandersetzung!“
Prof’in Dr’in Maria Bitzan
Vortrag auf dem Fachgespräch „Zukunft und Perspektiven der Mädchenarbeit und Mädchenpolitik“ Freiburg, 2010